zum Städtischen

Author
Architekt DI Hans Peter Machné
Datum
6.5.2020
Lesedauer
10
Minuten
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Was ist das Städtische, lässt es sich nach einer Analyse, reduzieren auf einige wenige Aussagen. Können wir es abstrahieren von der Stadt, das heißt aus den Phänomenen Symbole machen, und es dann verstehen, ja sogar planen oder simulieren? Wie wir in den Referaten gehört haben umfasst das Städtische sehr viele Ebenen und Bereiche, viele verschiedene Schichten und Aspekte überlagern und durchdringen sich. Architektur, Autos, Bewegung, soziale Umstände und natürlich die verschiedenen Menschen und Eigenarten dieser, die erst alles hervorbringen, sind die Elemente der Stadt. Sie alle und noch mehr erzeugen das Städtische. Wir haben gesehen, dass diese Verschneidungen sehr kompliziert sind und sich sehr schwer entwirren und analysieren lassen, obwohl sie dann wieder zu so klaren Dingen wie einer Grenze innerhalb des städtischen Gefüges führen. Wir unterliegen jedoch einem gewaltigen Fehler wenn wir glauben, dass wenn wir nur alle Elemente der Stadt analysieren und auf ihre Eigenschaften hin untersuchen, wir daraus lernen können wie man Städtisches erzeugt. Gerade in der amerikanischen Gesellschaft wird das deutlich. Wie schon erwähnt im Teil  „Voraussetzungen" wurde diese Stadt nicht determiniert, oder zumindest zu einem geringeren Teil als die europäischen  Metropolen (Könige, Idealstadtkonzepte,....), sondern entstand rein aus den Beziehungen des Inneren heraus.  Es wäre jedoch falsch hier von einem Organismus zu reden, viel zutreffender ist der Begriff  „Prozess". Ein Organismus setzt sich aus Teilen (vom Atom bis zu einem Organ) zusammen ,die alle isochron und vor allem auf ein gemeinsames Ganzes hin gerichtet (die Funktionserhaltung des Lebewesens) funktionieren. Davon kann in Chicago keine Rede sein. Wie wir gesehen haben folgt hier alles seiner eigenen Zeit; die Teile stehen natürlich in Wechselwirkung zueinander, aber sie sind unabhängig voneinander aktiv. Beinahe wäre es unethisch die Stadt als Organismus zu bezeichnen und ihre Menschen als Organe oder was auch immer, denn in einem Körper läuft alles geregelt und es herrscht ein totalitäres Regime. Chicago jedoch und viele andere Städte leben von der relativen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Individuen.(Natürlich gibt es Zwänge, wie Geld, Arbeiten...) Die Stadt als Prozess, oder noch besser als System beschreibt den Zustand also besser, da es in einem Prozess zu Strukturbildungen (gesellschaftlicher , architektonischer, städtischer... Art) kommen kann ohne einen übergeordneten Plan. Hier kann es laut Koolhaas oder Lebbeus Woods nie zu einem totalitären System kommen: „Contemporary society is not self-preserving, but essentially self-transforming. It seeks dynamic equilibrium. Continual change is what it is based on and what it needs above all else. Dynamical social coherence is possible - paradoxically, in Aristotelian terms - only whithin an icohering field of knowledge, and therefore of action, a continually shifting and self transforming field, whithin which the constituent parts retain a certain autonomy, freedom of expansion or of instant annihilation, and are not subjected to totalising system of any kind." 1         Selbstorganisation Städtisches so wie wir es heute verstehen sollten kann also gar nicht geplant werden. Galt in der Wissenschaft bis vor kurzem noch der Grundsatz, dass man die Entwicklung eines Systems und seine Eigenschaften vorhersagen könne, wenn man nur genügend Rechenkapazität besitzen würde um die Eigenschaften der Elemente qualitativ und quantitativ erfassen zu können, so sagen uns sie Selbstorganisationsforscher was anderes: „ Das System als Ganzes besitzt dann Eigenschaften, die die Elemente für sich genommen nicht haben.(...) Das Faszinierende(..) liegt dabei in der Tatsache, das die Komplexität des Systems zumeist nicht auf gleich komplexen Regeln für die Elemente beruht, sondern auf sehr einfachen Regeln, die bereits bei geringen Änderungen gänzlich andere Systemstrukturen hervorbringen können." 2 Ganzheiten sind also nicht einfach die Summe ihrer Einzelteile sondern es finden im System Vorgänge statt die nicht reduzierbar sind, aber vor allem in den Wechselwirkungen zu beobachten sind. Dieses Phänomen nennt man Emergenz. Im Geiste der früheren Annahmen liegen jedoch beinahe alle Stadtutopien von Thomas  Morus bis zu den „Stadt in der Stadt" Modellen oder multifunktionalen Einkaufszentren.   Durch eine bloße Addition von Funktionen und ein rigides Regelwerk, welches vor allem die Wechselwirkungen zwischen den Elementen der Stadt  fixiert, wird dem Städtischen der Platz geraubt. Städtisches entsteht aus dem Zusammenwirken und kann nicht determiniert werden. „ In diesem Selbstorganisationsprozeß können durchaus Lösungen auftreten, die unvorhersehbar und neuartig sind."3         Künstliche Stadt Beispiele für Versuche künstliches städtisches Flair herzustellen gibt es genug, in der West Edmont Hall zum Beispiel „....wurden verschiedene Einkaufsstraßen der Welt nachgebaut um die Illusion zu vermitteln man befände sich in Rom, Tokyo oder New Orleans. Nur ist dieses Surrogat von Welt von allen Gebrauchsspuren gereinigt , alterungsbeständig, garantiert Kunststoff. Kann man sich an einem solchen Ort Demonstrationen vorstellen(...)? Kann hier ein Camille Desmoulins auf einen Tisch springen und zum Sturm auf die Bastille aufrufen, wie es in einem Cafe´ im Palais Royal im Jahre 1789 geschah...?"4  Nein , das kann dort ebensowenig geschehen, wie sich dort ein Flaneur im Benjaminschen Sinn in „Panische Räume"5 versinken lassen kann. Die Stadt , das Städtische muss also auch Platz bieten für neue Entwicklungen, abseits von all den touristischen Stadtbildern. Das Städtische ist also etwas ganz anderes als das was wir über die Medien transportiert bekommen. Dieter Hoffmann Axthelm unterscheidet zwischen der  „..sichtbaren Stadt als Objekt des Tourismus und der unsichtbaren Stadt als Arbeitsplatz. (....) Auf der Gegenwartsebene zerfällt die Stadt deshalb in eine sichtbare Stadt, die der organisierten (...) Sichtbarkeit, (...) genauer, der medialen Stadt, und in eine unsichtbare Stadt, die die ist, in der wir tatsächlich leben , die wir telefonierend, autofahrend, arbeitend, einkaufend(...) täglich Beschreiben..."6 Wie viele New Yorker waren denn öfter als einmal wenn überhaupt in der Freiheitsstatue, wie viel Chicagoer im Sears Tower? Das Städtische ist nichts festes , es befindet sich im Fluss und schafft sich seine eigenen Räume und Zeiten, es bedarf heute keiner rigiden Steinarchitektur mehr um Plätze zu definieren, die ja meist doch nur Räume der Autorität sind.             Kreativität - Temporäres Auch dazu können uns die Selbtorganisationsforscher etwas sagen. Ein Theorem besagt, daß ein System sich seine Bedingungen selbst schafft. Und die Ereignisse von 1789 ließen sich im Lichte der SO dadurch erklären, dass ein System neue Strukturbildungen hervorbringt, am kreativsten ist, wenn es sich am weitesten vom Gleichgewicht entfernt. Kreativität und Entwicklung finden also immer dort statt  wo es Instabilitäspunkte gibt. Aber genau jene Instabilitäten versuchten die meisten Stadtplaner und Utopisten zu vermeiden, jetzt jedoch taucht die Instabilität und das Ephemere als Triebfeder des gesellschaftlichen Lebens auf. Müssen wir also wie Gert Kähler schreibt, dem Ungeplanten eine Bühne  schaffen7, das städtische aus dem Planungsprozess heraushalten und nur Freiräume schaffen? Tokyo scheint dafür ein Beispiel zu sein: „ Die Räume sind von einer bezaubernden Unbekümmertheit. Sie gewinnen ihren Charme aus der Rohheit, mit der gefügt wurde. Sie füllen sich mit Einbruch der Dunkelheit, dann leuchten und lärmen sie . Sie erzeugen eine Urbanität, die in asiatischen Städten noch zu finden ist, und deren Verschwinden in europäischen Städten beklagt wird. Wo immer sich Nischen bilden, in denen sich etwas Temporäres ansiedelt, gewinnen diese Bereiche an Attraktivität. Sie erscheinen lebendig, sie ziehen Menschen an, sie erzeugen Kommunikation und Idee. Sie müssen innovativ sein - aus diesem Grund sind sie temporär. Sie suchen engen Kontakt zur Straße, um den Eindruck von ständiger Aktion zu vermitteln und gleichzeitig den Konsum zu gewährleisten. So wird das Gefühl erzeugt, auch wenn man sich in dieser „free-zone" aufhält, doch noch in Kontakt zu weiteren Aktivitäten  zu stehen und nichts zu versäumen.(...) Städtische Dichte und damit Spannung wird durch diese ungeplanten Additionen erreicht , die einer ständigen Umformung und Deformation durch die Nutzer unterworfen sind.8  Solche Bereiche gibt es in Chicago nur mehr sehr sporadisch, bei Märkten oder in großen Hallen.           Randbedingungen Die Rasterstadt scheint ja eigentlich dem Modell einer Stadt die sich selbst organisiert sehr gut zu entsprechen. Trotzdem stören einige Dinge, wie die Bildung allzu abgegrenzter Viertel. Hier wurde kein Städtisches geplant, sondern der freien Entwicklung innerhalb der Rasters Raum gegeben. Nun handelt es sich bei dem System, welches hier besprochen wird, um die Stadt und ihre Elemente sind Menschen, und unsere Ethik verlangt es Randbedingungen festzusetzen, welche ein menschenwürdiges Zusammenleben ermöglicht. Diese Randbedingungen stehen in keinem Gegensatz zur SO: „Die Evolution des Systems unterliegt zwar Randbedingungen, die als Kontrollparameter wirken und die prinzipiellen Entwicklungsmöglichkeiten des Systems beeinflussen..."9 Wie aber sehen diese Randbedingungen aus? Am Beispiel der amerikanischen Metropolen sehen wir das doch einiges Falsch war, vielleicht waren sie zu wenig dicht gestreut oder aber nur auf bauliche Maßnahmen beschränkt.Diese Vorgaben müßten ein System ermöglichen das im dynamischen Gleichgewicht ist, d.h. eine freie Entwicklung ermöglicht, aber auch die totale Herrschaft  des „Recht des Stärkeren"  nicht zulässt. In den USA scheint es als sei ein Versuch der Festbetonierung des Status Quo in Gang.  Die obere Schichte versucht mit allen Mitteln an der gegenwärtigen Struktur festzuhalten. Es brodelt jedoch gewaltig unter der Oberfläche. Tom Wolfe beschreibt im 1. Kapitel die Szene in der der Bürgermeister von der Menge in Harlem attackiert wird und flüchten muss. Auch Reverend Bacon (Figur im Buch) spricht immer wieder davon: „ Es kommt der Tag in New York. Die Stunde rückt näher. Die letzte Schlacht könnte man sagen.10(...) Harlem, die Bronx und Brooklyn, sie werden hochgehen, mein Freund...."11 Ist das ein Instabilitätspunkt ?Die totale Freiheit, die Anarchie kann also auch nicht das Rezept sein. Lebbeus Woods Utopie „Arial Paris" ist zwar sehr poetisch und regt zu neuen Gedanken an (er setzt sich sogar über das Diktat der Schwerkraft hinweg) aber eines erzeugt es mit Sicherheit nicht : Städtisches. Viel eher könnte Städtisches in seinen „free-spaces" stattfinden. Doch auch er setzt keine Randbedingungen. Es bleibt also die Frage nach den Randbedingungen, die das Zusammenwirken der Einzelelemente, und somit die Emergenz, die Kreativität des Städtischen ermöglichen und ein Auftreten von menschenunwürdigen Zuständen verhindert. Diese Fragen werden wohl zu den wichtigsten im Städtebau gehören, und wir können trotz aller Unkenrufe auch heute noch eine Stadt gebrauchen, auch wenn wir einen anderen Zugang finden müssen.   Bibliographie 1)  Woods Lebbeus,Heterarchies . In: L. Woods, Architectural Monographies No. 22,         Academy Editions, St. Martins Press,  1992, S. 46 2) Dirk Helbing/ Martin Hilliges/ Peter Molnar/ Frank Schweitzer, Arne Wunderlin:        Strukturbildung Dynamischer Systeme. In Arch+ Zeitschrift für Architektur und        Städtebau (period. Zeitschrift) , Arch+ Verlag , Aachen, Nr. 121, März 1994, , S.69 3)  wie Anm. 2 4)  Kähler Gert, Mulifunktionale Monotonie Werk, Bauen+Wohnen (period. Zeitschrift),        Juni 1991, S. 20 5) vergl. Voss Dietmar, Die Rückseite der Flanerie, S. 49 6)  Hoffmann-Axthelm Dieter, Stadt der Wahrnehmung. In : IN BEWEGUNG, Hersg.:        Barbara Steiner, Stephan Schmidt-Wulffen, Oktagon ,1994 , S.34-35 7)  wie Anm. 4 8)  Klauser Wilhelm : Bewegliche Stadt. In: Arch+, Nr. 123(Megapolis Tokyo), Sept. 1994, ,         S. 31 9)  Wie Anm. 2 10)  Wolfe Tom, S. 193 11)  Wolfe Tom, S 199